EVA CASSIDY
Als sie Eva Cassidy zum ersten Mal im Radio hörten, steuerten etliche britische Autofahrer den nächsten Parkplatz an. Diese Stimme hat eine unvergleichliche Intensität, die zu Tränen rührt - Cassidys Entdecker, BBC-Radio-Two-DJ Terry Wogan, lernte das aus den Hörerreaktionen.
Die BBC-Musiksendung Top Of The Pops 2 sendete eine gegen alle professionellen Regeln verstoßende Videoaufnahme von "Over The Rainbow" - und sie wurde zum meistgewünschten Videoclip in der langen Geschichte der Sendung. Cassidys Album "Songbird" (Hot/Zomba) kletterte darauf in Großbritannien Anfang des Jahres auf den ersten Platz der Albumcharts.
"Zwingen Sie mich nicht, diese Pop-Scheiße zu singen"
In Deutschland ist diese Sammlung von Blues-, Folk- und Jazz-Klassikern erst jetzt auf dem Sprung. Das Tragische: Der Erfolg der blonden Musikerin aus Washington ist postum. Am 2. November 1996 starb sie an Hautkrebs; sie wurde 33 Jahre alt. Große Plattenfirmen hatten sie nicht unter Vertrag genommen, weil sie sich in keine Schablone pressen lassen wollte - jemand, der auf einem Album Musik aus vier Genres spielen wollte, schien nicht vermarktbar. "Zwingen Sie mich nicht, diese Pop-Scheiße zu singen", sagte sie den verdutzten Managern laut "Washington Post." So entstanden lediglich einige Demo-Aufnahmen und 1992 ein Album mit Chuck Brown. Dann kam noch 1996 "Live At Blues Alley" bei einer kleinen Plattenfirma heraus.
Ohne Wogan wäre Cassidys Stimme vielleicht nicht bekannt geworden. Bill Wyman sagte kürzlich dazu: "Da hatte endlich einmal jemand im Rundfunk den Mut, einen solchen Künstler, einen solchen Song zu spielen - gegen jede Format- und Chartzwänge. Einfach nur, weil es gute Musik ist." Über das, was im Radio warum gespielt wird, ist in Großbritannien mit seinem auf Jugend fixierten Pop-Markt auch prompt eine Diskussion entbrannt. Letztendlich lässt sich Cassidys Erfolg, ihre musikalische Kraft, nicht darauf reduzieren, dass die Erwachsenen ab 40 mal wieder eine Musik fanden, die sie wie weiland Elton Johns Diana-Hymne massenhaft zu kaufen bereit waren.
Gärtnerin mit unerträglichem Lampenfieber
Der Erfolg einer Musikerin, die nie einen richtigen Plattenvertrag hatte, die Zeit ihres Lebens wegen unerträglichen Lampenfiebers höchstens in Clubs auftrat und es vorzog, im Hauptberuf Gärtnerin in einer Baumschule zu sein, ist damit allein aber nicht zu erklären.
Cassidy hat "Somewhere Over The Rainbow", Stings "Fields Of Gold", Curtis Mayfields "People Get Ready" (von dem schon viele andere hervorragende Versionen aufnahmen) Christine McVies "Songbird" gesungen, weil sie die Lieder mochte und weil sie ihr etwas bedeuteten. Einen anderen Grund, zu singen, gab es für sie nicht. Ihre eklektische Sammlung von Liedern, von denen man meinen könnte, sie seien schon oft genug interpretiert worden, wird von ihrer unglaublichen Ausstrahlung zu einem zeitlosen Juwel veredelt.
Letzter Auftritt vor dem Tod: "What a Wonderful World"
"Selbst kurz vor dem Ende hat Eva nie Angst gezeigt", erinnert sich ihre Mutter, Barbara Cassidy. Die Sängerin und Gitarristin war in der Lage, Musik nicht als bloße Unterhaltung und Zeitvertreib, sondern als elementare Ausdrucksform von Menschlichkeit zu machen; letztlich als Lebensmut im Angesicht des Todes. Ihr letzter Auftritt war bei einem Wohltätigkeitskonzert in Bayou, Mississippi. Alle im Publikum sahen, dass die Sängerin von ihrer Krankheit schon schwer gezeichnet war. Cassidy sang Louis Armstrongs "What a Wonderful World". Das Publikum weinte.
Bei SWR3 "glühte die Leiste"
In Deutschland spielt der Sender SWR 3 als einer der ersten Cassidys Lieder. Immer, wenn "Over The Rainbow" oder "Fields Of Gold" gelaufen waren, "glühte die Leiste" mit dem Hörertelefon, wie Musikredakteur Thomas Müller berichtet. Mittlerweile hat die Südwestfunk-Popwelle das ganze "Songbird"-Album vorgestellt, Beiträge über sie - "eine Human-Touch-Geschichte" - produziert und Interviews mit Wogans BBC-Produzenten Paul Walters und der deutschstämmigen Mutter Barbara geführt. Andere Sender spielen inzwischen auch Cassidy-Songs, wie das Promotion-Büro des deutschen Vertriebs mitteilt. Die merkwürdige Erfolgsgeschichte von "Songbird" geht weiter.